Erste Erwähnungen und der Weg der Juden nach Stadthagen

Gegen Ende des 14. Jahrhunderts finden sich erste Namen von Juden in historischen Rechnungen und Handelsbelegen der Stadt. Es stellt sich die Frage, wie überhaupt Juden, die ursprünglich im Gebiet des heutigen Israel und Palästina lebten, in deutsche Gebiete und später bis nach Stadthagen gelangten. Die Vertreibung der Juden setzte ein nach dem Sieg der Römer über aufständische Juden in den Jahren 70 und 135 n. Chr. Sie gelangten, unter anderem als Begleiter römischer Soldaten, bis nach Spanien, Frankreich und an den Rhein und Main, wo sie sich in verschiedenen Städten niederließen: Mainz, Speyer, Worms, Trier, Köln u.a. Hier gab es eine längere Zeit, in der sie ihrem Glauben und ihren Geschäften nachgehen konnten und friedlich mit Christen zusammenlebten.

Das änderte sich 1095 mit dem Aufruf Papst Urbans II. zum 1. Kreuzzug, der zum Ziel hatte, Jerusalem von den Muslimen zu befreien. Seit dieser Zeit verstärkte sich der christliche Antijudaismus. Jüdinnen und Juden erfuhren Verfolgungen und Massaker. Sie wurden des Ritualmords, des Hostienfrevels und der Brunnenvergiftung beschuldigt sowie für die Pest und weiteres Unglück verantwortlich gemacht. Geistige Grundlage dieser Morde war ein Judenhass, der sich aus einer viele Jahrhunderte vorherrschenden Auslegung des Neuen Testaments ergab.

Juden in Köln werden verbrannt.

Überlebende all der Verfolgungen zogen weiter nach Norden und Osten, wo sie auf Duldung und ein auskömmliches Leben hofften. So kamen sie 1270 nach Minden und Hameln, 1322 nach (Hessisch-)Oldendorf und dann auch nach Stadthagen. Als Residenzstadt und Handelsstadt an einem wichtigen Handelsweg, dem Helweg, war Stadthagen für Juden interessant, denn sie waren in erster Linie Händler und Geldverleiher. Andere Berufe waren ihnen verwehrt. Christen hingegen war das Verleihen von Geld gegen Zinsen verboten. Landesherren und Städte benötigten aber Geld, und so waren jüdische Geldverleiher oft willkommen.

Im Jahr 1383 wird in den Stadtrechnungen erstmals ein Jude erwähnt: Samuel aus Hameln. Er hatte der Stadt 100 Mark beschafft. 1431 werden die Juden Moses und Isaak genannt, und zwar in einem „Pferdebuch“. Darin waren alle Bürger der Stadt erfasst, die Pferde für militärische Zwecke halten mussten. Juden wurden also damals wie die christlichen Bürger behandelt.

Und 1435 wird noch der jüdische Arzt Meister Israel erwähnt, der auf eine besondere Bitte des Grafen von städtischen Abgaben befreit wurde. Mehr wissen wir über die ersten Juden in Stadthagen nicht.

Isaac de jode – moyses de jode

1500 bis zur Aufklärung

Nach diesen ersten Erwähnungen von Juden gibt es fast 150 Jahre lang keine weiteren Hinweise auf in Stadthagen lebende Juden. Erst unter Graf Adolf XIV wurden Schutzbriefe für drei Juden ausgestellt:

1586 für Moses, der aus Obernkirchen nach Stadthagen zog, 1591 für dessen Sohn Nathan Spanier (oder Spannier) und bald danach für dessen Schwiegersohn Jost Goldschmidt.

Was hat es mit diesen Schutzbriefen auf sich?
Die Kirche hatte 1215 den Juden zwar die Ausübung ihrer Religion gestattet, ihnen gleichzeitig aber die Ehe mit Christen und die Ausübung öffentlicher Ämter verboten, eine diskriminierende Kleidung vorgeschrieben (der Spitzhut und ein gelber Kreis an der Bekleidung kommen daher) und ihnen wegen ihrer „Sünden“ die ewige Knechtschaft zugesprochen. Daraus folgerte der Kaiser, dass ihm die Juden wie Eigentum zur Verfügung standen. Sie waren seine unmittelbaren Untertanen und mussten ihm dafür ein Schutzgeld zahlen. Dieses Recht gaben die Kaiser später an erstarkende Landesherren und auch an Städte weiter, welche Geleit- oder Schutzbriefe ausstellten.

Die Schutzbriefe wurden je nach Region und Herrschaftsinstanz unterschiedlich ausgestaltet. Sie legten die Höhe des Schutzgeldes fest. Sie dokumentierten Gebote und Verbote der jeweiligen Juden. Hier ein Teil des Schutzbriefs, der 1591 für Nathan Spanier ausgestellt wurde:

„Wir bekennen und tun kund für uns und unsere Erben und jedermann, dass wir Nathan den Juden samt seinem Weibe und seinen Kindern, wie auch seinem Hausgesinde, von Michaelis des Jahres 1591 an in unserer Grafschaft in Schutz, Schirm und Schwur dergestalt genommen haben, dass er 20 Jahre in unserer Stadt Grevenalveshagen [frühere Bezeichnung für Stadthagen] seine Wohnung haben und seinen jüdischen Handel und Wandel treiben mag. Nathan ist verpflichtet, uns jährlich 6 Reichsthaler auf Michaelis-Tag reichen zu lassen. Er hat sich gegen unsere Untertanen so zu verhalten, dass uns darüber keine Klagen vorkommen, sonst soll das Geleit nichtig und kraftlos sein. Wir gebieten unseren Amtsleuten, Bürgermeistern, Voigten, Zöllnern und Dienern, sich über dieses unser Geleit nicht zu beschweren oder Beschwerde zuzulassen“.

Schutzjude zu sein, bedeutete also einen zeitweiligen Schutz, hieß aber im Endeffekt, der Willkür des Landesherrn ausgeliefert zu sein.

So sollten 1601 alle Juden aus der Grafschaft ausgewiesen werden. Nur dank eines großzügigen Geschenks der Juden an den Grafen konnte das vermieden werden. 1705 wurde die Ausweisung vollzogen, aber immerhin wurde acht Schutzjuden erlaubt, im Land bleiben. 1717 erfolgte eine weitere Ausweisung. Diesmal durfte nur ein Schlachter, der den Hof mitversorgte, bleiben.

Der erste Betraum und der Plan einer Synagoge

Nathan Spanier wohnte im Haus Nr. 226, heute Krumme Straße 35. Wie bekannt er war, zeigt sich daran, dass der Stadtturm hinter seinem Haus „Turm hinter dem Juden“ genannt wurde. Im Haus von Jost Goldschmidt (Nr. 242, heute Krumme Str. 15) befand sich spätestens ab 1620 der erste Betraum der Juden.

Aus dem Jahre 1635 gibt es eine umfangreiche Beschwerde des evangelischen Superintendenten Alardus Vaeck an die Stadt: In der Synagoge, so wurde der Betraum bezeichnet, bei Jost Goldschmidt versammelten sich morgens und abends zuweilen 20 Juden. Sie würden dabei auch am Sonntag allerhand Verrichtungen vornehmen. Vor acht Tagen habe die Synagoge gebrannt und dabei sei auch Christen großer Schaden entstanden. Vor allem betrieben sie Wucherhandel, durch den die Christen ausgesogen würden. Der Jude Goldschmidt versorge fast die ganze Stadt mit Nahrung. Dem jüdischen Irrglauben müsse man sich widersetzen. Die gotteslästerlichen Schmähungen, die die Juden gegen den Erlöser und das Christentum führten, müssten eingestellt werden. Die Regierung solle nicht erlauben, dass die Juden einen Geistlichen oder Schulmeister einstellen. Gottloses Verhalten und Gotteslästerung dürften nicht zugelassen werden.

Hier zeigen sich neben dem christlichen Antijudaismus die Angst vor wirtschaftlicher Konkurrenz und Neid gegenüber dem reichen Jost Goldschmidt.

So wundert es nicht, dass der Antrag der Juden aus dem Jahr 1635, eine Synagoge zu bauen, von der evangelischen Kirche mit Alardus Vaeck und der Stadt abgelehnt wurde. Es verwundert auch nicht, dass nach diesen Streitigkeiten und weiteren Auseinandersetzungen mit Krämern in der Stadt die Familien von Nathan Spanier und Jost Goldschmidt 1638 aus der Stadt wegzogen, einige nach Hameln, wo Josts Sohn Glückl von Hameln heiratete, die als erste Frau eine Autobiographie geschrieben hat. Nathan zog nach Altona, wo er Vorsteher der jüdischen Gemeinde wurde.

Jobst Samson – ein Rabbiner für Stadthagen

1670 wurde Jobst Samson, der sich später nach dem Ort seines Wirkens Joseph Stadthagen nannte, Rabbiner in Stadthagen und zugleich Landesrabbiner für Schaumburg-Lippe. Er stammte aus einer bekannten Kaufmanns- und Rabbinerfamilie aus Metz. Er muss recht wohlhabend gewesen sein, denn er besaß (z.T. nacheinander) fünf Häuser in der Stadt, darunter auch das Haus 261 (Niedernstr. 16), in dem sich vermutlich eine Betstube befand. Darauf deutet eine Eingabe Jobst Samsons hin, in der er sich u.a. über christliche Jugendliche beschwerte, die die religiösen Feiern stören und jüdische Kinder ärgern würden. Seine Tochter sei durch einen Steinwurf eines christlichen Jungen verletzt worden.

Ältere Ansicht des Hauses Niedernstr. 16.

1684 veröffentlichte der Landesherr eine Verfügung, nach der die Juden ihre Feiern am Sabbat und ihre Betstunden - wie es hieß - ganz geheim und ohne Ärgernis der gräflichen Untertanen, auch ohne Pomp und Pracht in Kleidung zu halten hätten.

Joseph Stadthagen galt als rabbinischer Gelehrter mit ungewöhnlich profunden Kenntnissen des Neuen Testaments. Er wurde früh bekannt für seine großen argumentativen Fähigkeiten. Schon in jungen Jahren trat er in öffentlichen Disputationen (z. B. an der Universität Rinteln) mit christlichen Gelehrten als Apologet - Verteidiger - des Judentums auf. So wurde er 1704 zu einer christlich-jüdischen Disputation nach Hannover eingeladen, und zwar vom Kurfürsten von Hannover, dem späteren König Georg I von England. Dabei soll er die Teilnehmer, besonders die Mutter des Kurfürsten, durch seine Kenntnisse und Argumente, aber auch durch seine Persönlichkeit beeindruckt haben.

Streitgespräch zwischen Juden und Christen im 16. Jahrhundert.

Nach seinem Tod 1715 und der Ausweisung aller Juden 1717 verließ seine Witwe mit ihren Kindern die Stadt. Aus dieser Familie sind berühmte Rabbiner und Gelehrte hervorgegangen.

Bald nach der letzten Ausweisung durften nach und nach wieder einige Schutzjuden in Stadthagen leben. Manchmal konnte der Gottesdienst nicht stattfinden, da die erforderliche Mindestzahl von 10 Männern nicht erreicht wurde. Bis 1787 wuchs ihre Zahl wieder auf 5 Schutzjuden mit insgesamt 21 Personen. Stadthagen hatte in dieser Zeit 1600 Einwohner.

Zeit der Aufklärung bis zur Gleichberechtigung

Mit dem Beginn der Herrschaft Graf Wilhelms und unter der Regentin Juliane traten wichtige Änderungen für die Stellung der Juden in Kraft. Beide waren von der Aufklärung beeinflusst. Graf Wilhelm hatte Moses Mendelssohn kennengelernt und mit ihm korrespondiert. Dieser war der erste große jüdische Aufklärer und diente Lessing als Vorbild für „Nathan der Weise“. Die darin enthaltene Ringparabel betont im Kern die Gleichwertigkeit der drei großen monotheistischen Religionen vor Gott. Die Juden erhielten zwar keineswegs die volle Gleichberechtigung, aber es wurde ihnen ermöglicht, auch andere Berufe auszuüben, im Handwerk, im Ackerbau und in der Manufaktur.

In dieser Zeit wächst die Zahl der Juden
Eine Betstube befand sich ab etwa 1775 hinter dem Haus Obernstraße 33. In den Jahren von 1800 bis 1848 gab es erste Verbesserungen für die Situation der jüdischen Bevölkerung. So konnten neue Berufe ergriffen werden: Gedalja Baruch wurde Arzt und erhielt für sein Studium eine Unterstützung des Fürsten, sein Bruder Isaac Baruch arbeitete als Tierarzt. Raphael Salomon erhielt die Konzession für einen Kolonialwarenhandel, er wurde später Damastfabrikant und belieferte auch den Hof. Vermutlich war das der Grund dafür, dass er 1812 als erster Jude in Stadthagen die vollen Bürgerrechte erhielt. 1840 wurde allen Juden auferlegt, einen dauerhaften Familiennamen anzunehmen. So wurde aus Salomon Salfeld, aus Baruch Baar, aus Hirsch Hirschfeld usw. 1842 wurde der unwürdige mittelalterliche Judeneid abgeschafft. Ein schwörender Jude musste im Mittelalter z.B. auf der Haut einer Sau stehen und dabei eine bestimmte Kleidung tragen. Die Juden erhielten jetzt auch einen neuen Friedhof. Bis dahin durften sie ihre Toten nur außerhalb des Walls, zuletzt am Wall nahe der Niedernmühle bestatten. Grabsteine aufzustellen war ihnen nicht erlaubt, um die Augen christlicher Spaziergänger nicht zu beleidigen, wie es hieß. Anfang des 19. Jahrhunderts, wahrscheinlich 1822, wurde ein neuer Friedhof angelegt, wohl auf Betreiben von David Salomon Salfeld, der die Eingangspfeiler stiftete.

Der neue Friedhof lag weit außerhalb der damaligen Stadtgrenze vor dem Westerntore (heute an der Seilerstraße, Ecke Parkstraße gegenüber der Festhalle).

Der Eingang zum jüdischen Friedhof.

1848 bis 1933

Die entscheidende Veränderung brachte das Jahr 1848, nämlich die volle rechtliche Gleichstellung der Juden. Bereits Anfang 1848 hatte der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Stadthagens, Isaac Rafael Salfeld, in einer Petition an den Fürsten die Gleichberechtigung gefordert. Als Leinenfabrikant beschäftigte er 400 Weber in Schaumburg-Lippe und Umgebung und lieferte sein Leinen bis nach Übersee. In der bürgerlichen Revolution spielte er 1848 eine nicht unbedeutende Rolle. So war er zeitweise Vorsitzender eines politischen Clubs des liberalen Bürgertums, zu dem z.B. auch der Likörfabrikant Meyer, die Gebrüder Aprath und der Apotheker Klingenberg gehörten.

1855 traf sich Salfeld gemeinsam mit sieben weiteren Juden beim damaligen Bürgermeister Hagemeier. Sie trugen vor, dass der jetzige Betraum baufällig und unzumutbar sei (Der Raum lag hinter dem Haus Nr. 98 – heute Obernstr. 33) und dass man eine neue Synagoge zusammen mit einer Lehrerwohnung und einem Schulraum bauen wolle. Einen Teil der Kosten für den Bau könne die Gemeinde aufbringen, der Rest solle über einen Kredit finanziert werden. Da ihm die Verhandlungen mit der Stadt zu lange dauerten, kaufte Salfeld das Haus Nr. 257 (heute Niedernstr. 19). Er beantragte, auf dem dortigen Hof eine Synagoge bauen zu dürfen. Der Rat stimmte dem zu.

Ältere Ansicht des Hauses Niedernstr. 19. Die Tür rechts führte durch einen Flur zur Synagoge.

Mit dem Bau der Synagoge ging es dann sehr schnell. Bereits am 5. Mai 1858 wurde sie durch Dr. Hermann Joel eingeweiht. Die Predigt wurde noch im gleichen Jahr in Hannover gedruckt. Dr. Hermann Joel stammte aus Schwerin an der Warthe. Sein Vater wirkte dort als Rabbiner und auch zwei seiner Brüder waren Rabbiner. Hermann Joel, der in Düsseldorf als Rabbiner wirkte, wurde 1856 Rabbiner in Stadthagen. Wo Joel mit seiner Familie gewohnt hat, ob er nach dem Kauf des Hauses Niedernstr. 19 in dieses Haus eingezogen ist, ist nicht bekannt. Eigentlich war nämlich vorgesehen, dass in diesem Vorderhaus eine Rabbiner- bzw. Lehrerwohnung und ein Unterrichtsraum eingerichtet werden sollten. Die Räumlichkeiten scheinen aber bald als Wohnungen an Christen vermietet worden zu sein.

Dr. Joel blieb bis 1860 Rabbiner in Stadthagen und ging dann als Rabbiner nach Hirschberg, heute Jelenia Gora. Dass er nur vier Jahre in Stadthagen blieb, mag damit zusammenhängen, dass es Unstimmigkeiten in der Gemeinde gab zwischen der Gruppe um die Salfelds, die reformorientiert war, und der Minderheit der Juden vom Lande (aus Wendthagen, Heuerßen und Meerbeck), die zu den Orthodoxen zu zählten.

Ob es nach dem Weggang Joels in Stadthagen noch einmal Rabbiner gab, ist eher unwahrscheinlich. Ab 1870 besuchten die jüdischen Kinder nach einer Verfügung des Fürsten die öffentliche Volksschule. 1865 gingen Wohnhaus und Synagoge und auch der Friedhof über in den Besitz der israelitischen Synagogen-Genossenschaft. Diese bestand bis 1938 fort.

Dass Juden weitgehend in die städtische Gesellschaft integriert waren, lässt sich an Beispielen zeigen: Es gab einige wenige Heiraten zwischen Juden und Christen. Adolf Baar war Mitgründer des Turnvereins und gründete 1868 die freiwillige Feuerwehr, saß im Schaumburg-Lippischen Landtag und im Magistrat der Stadt. Adolf Baar und seine Familie spendeten für eine Stiftung erhebliche Geldsummen, die für wohltätige Zwecke ohne Bindung an eine Religion verwendet werden sollten.

Adolf Baar

Einige Juden nahmen schon am Krieg 1870/71 teil, eine größere Anzahl am 1. Weltkrieg. Sechs Mitglieder der Synagogengemeinschaft waren gefallen, andere schwer verletzt.

Man kann davon ausgehen, dass das Zusammenleben von Christen und Juden in Stadthagen – trotz des gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Reich anwachsenden Antisemitismus – friedlich und ohne große Konflikte verlief. Die christliche Bevölkerung kaufte gern im Kaufhaus Lion oder im Laden von Clara Asch, Niedernstr. 31. Juden waren Mitglieder im Gesangverein „Liederkranz“, William Wolf auch in der Freimaurerloge Albrecht Wolfgang. Man ging zum jüdischen Arzt, arbeitete in ihren Betrieben oder auch bei reichen jüdischen Familien als Hausangestellte. Die Gastwirtschaften „Zur guten Quelle“ in der Obernstraße und „Zum Hannoverschen Hof“ in der Niedernstraße, die von Juden betrieben wurden, waren beliebt.

Juden nahmen am traditionellen Schützenfest teil und waren sogar Rottmeister. Ein besserer Beweis für ihre Integration in die Stadtgesellschaft ist nicht denkbar.

Der jüdische Rottmeister Adolf Goldschmidt (mit seiner Frau in der Mitte).
Der jüdische Rottmeister Max Wolf (mit Rottmeisterlanze in der Mitte).

1933 bis 1945

Was geschah in Stadthagen in der Zeit des Nationalsozialismus? Schon kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten begannen auch hier antisemitische Aktionen:

  • Es wurde zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen
  • Morddrohungen wurden ausgesprochen, so gegenüber dem   Mitinhaber des Kaufhauses Lion, Moritz Trautmann
  • Juden und Jüdinnen wurden diffamiert, gedemütigt und beschimpft
  • einige Juden kamen in „Schutzhaft“ (Lion und Trautmann)
  • Drei jüdische Jugendliche wurden von Nazis überfallen, einer von ihnen musste mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert werden.    
  • Fensterscheiben von Geschäften und Wohnungen wurden beschmiert und eingeworfen.

Schließlich wurden jüdische Schülerinnen und Schüler ihrer Schulen verwiesen, Juden erhielten Berufsverbot und wurden gezwungen, ihre Geschäfte an sog. „Arier“ zu verkaufen. So musste Elias Lion sein Kaufhaus an einen „Strohmann“ der Familie Hagemeyer verkaufen. Dieser Terror hatte zur Folge, dass bis 1938 eine Reihe jüdischer Familien ins Ausland floh.

Am Vormittag des 10. November 1938 wurden acht Personen festgenommen und in das KZ Buchenwald verschickt. Es ist unklar, warum trotz des Funkspruchs der Gestapo Bielefeld vom 10. November 1938 („es ist die Festnahme männlicher Juden von nicht zu hohem Alter und die vermögend sind, durchzuführen“) auch eine Frau, Clara Asch, verhaftet wurde.

Die verhafteten Juden auf dem Marktplatz, unten vor dem Gefängnis (heute Gerichtsgebäude).
Verhaftungen am 10.11.1938 / Clara Asch

In der Nacht vom 9. zum 10. November wurden überall in Deutschland Synagogen in Brand gesetzt. In Stadthagen erfolgte diese Aktion erst zwei Nächte später. Der Brand in der Synagoge konnte schnell gelöscht werden, um das Übergreifen auf benachbarte Fachwerkhäuser zu verhindern. Wo die religiösen Gegenstände geblieben sind, die von der Polizei sichergestellt worden waren, ist unbekannt. Die Folge der Reichspogromnacht, der Verhaftungsaktion und der damit einhergehenden Erfahrung von Zwangsarbeit und KZ war, dass weitere Stadthäger Juden sich gezwungen sahen, ihre Heimatstadt zu verlassen. Wohnten 1933 noch 59 Juden in Stadthagen, so waren es Ende 1939 noch 28. Sie wurden fast alle in den Ghettohäusern Am Markt 6-8 und Obernstraße 26 zusammengepfercht. Drei von ihnen starben eines natürlichen Todes.

Die anderen Stadthägerinnen und Stadthäger jüdischer Religionszugehörigkeit, wurden ab 1941 in verschiedene Ghettos und Konzentrationslager deportiert und dort umgebracht. Darunter waren auch die 81jährige Bertha Rosenfeld, die 20jährige Hannah Lilienfeld und die erst 8jährige Liesel Rosenfeld.

Es gab auch einige wenige Stadthägerinnen und Stadthäger, die jüdischen Mitbürgern halfen. Ein besonderer Fall ist der jüdische Junge Hans Lachmann, der einige Jahre verbotenerweise in einem christlichen Haushalt lebte. Als es zu gefährlich wurde, floh er nach England.

Der Junge Hans Lachmann mit der Familie Stahlhut in der Windmühlenstraße 21.

1942 wurde das Grundstück Niedernstraße 19 mit der Synagoge durch einen Vertreter der Reichsvereinigung der Juden zu einem sehr geringen Preis an den Kaufmann Karl Dohme verkauft. Nach dem Krieg nahm Dohme bauliche Veränderungen vor und nutzte die ehemalige Synagoge als Lager für sein Farben-, Tapeten- und Teppichgeschäft.

Nach 1945 bis heute

Eine Frau, Berta Gellermann, überlebte den Holocaust in Stadthagen und starb hier 1954. Sie war mit einem Christen verheiratet. Wie sie überleben konnte, wer ihr dabei half - und was mit ihren zwei Söhnen geschah, die im KZ Buchenwald waren, sind offene Fragen. Eine weitere Frau, Irma Rosenfeld, überlebte die Lager und kehrte, bevor sie in die USA auswanderte, kurz nach Stadthagen zurück. Sie versuchte vor allem ihre Wertsachen wiederzubekommen. Einige Gegenstände, die ja in Versteigerungsaktionen des Finanzamtes unter großer Beteiligung der Bevölkerung den Besitzer wechselten, erhielt sie kommentarlos vom Finanzamt zurück. Wenige Sachen wurden aus der Bevölkerung freiwillig zurückgegeben. Das meiste blieb verschwunden. Sie selbst stellte die Vermutung an, dass Finanzbeamte die wertvollen Sachen in ihren Besitz gebracht hätten.

Es gab einige Jüdinnen und Juden, die geflohen waren, die eine Wiedereinbürgerung beantragten, z.B. Erich Rosenfeld aus Israel 1960 Karl und Else Schmitz aus Argentinien 1974. Alfred Katz und seine Frau Sophie Marie geb. Rinke, eine christliche Stadthägerin, kehrten 1972 aus den USA zurück. Vermutlich wollten in ihrer Heimatstadt, an der sie sehr hingen, die letzten Lebensjahre verbringen. Sie starben beide kurz nacheinander schon 1973. Bemerkenswert ist die Rückkehr von Luise Brünig. Sie war Christin und in erster Ehe mit Herbert Pommer verheiratet. Gegen beide hatte es eine üble Hetzaktion im Stürmer gegeben. Trotz dieser Erfahrung kehrte sie 1993 in ihre Heimatstadt zurück und starb hier im Jahr darauf.

Die früheren Stadtarchivare Albrecht Wehling und Friedrich Bartels hatten auch Kontakt aufgenommen zu jüdischen Bürgern, die im Ausland überlebt hatten, und zu deren Nachfahren. Friedrich Bartels hat 1995 ein umfassendes Buch veröffentlicht: „Juden in Stadthagen. Das Leben ist Licht und Finsternis: geduldet – gehasst – gedemütigt – verfolgt – getötet und … fast schon vergessen“.

Seit 1991 zogen jüdische Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion auch nach Stadthagen. Einige Jüdinnen wurden auf dem jüdischen Friedhof beerdigt. Eine Jüdische Gemeinde hat ihr Zentrum in Bad Nenndorf. Während einer Veranstaltung in der St.Martini-Kirche am 9. November 2008 wurden auf Anregung von Hasso Neumann den ehemaligen Juden Stadthagens symbolisch die Bürgerrechte zurückgegeben. Die Menorah, die auf dem Foto von Vertretern der jüdischen Gemeinden und Nenndorf, Marina Jalowaja, und Bückeburg, Alexander Pojarov, angezündet wird, hat ihren Platz in der Synagoge gefunden.

Im Rahmen eines Projekts „Wege zur Erinnerung“ wurde die Idee entwickelt, die alte Synagoge in den Mittelpunkt des Gedenkens an die Zeit des Nationalsozialismus in Schaumburg zu stellen. Der 2008 gegründete Förderverein ehemalige Synagoge übernahm die Aufgabe, die Synagoge zu einem Gedenk- und Lernort zu gestalten.

So sah die Synagoge 2008 aus.

Der Verein organisierte die Verlegung von Stolpersteinen in der Stadt. Nachkommen jüdischer Mitbürger aus Israel, den USA und Deutschland nahmen an den Verlegungen teil. Von 2015 bis 2017 dauerten die Bauarbeiten an der Synagoge. Am 29. Oktober 2017 fand in einem feierlichen Rahmen die Eröffnung statt.

Autor: Jürgen Lingner

Top