SK-Tours Bulletin August 2025 zur aktuellen Lage in Israel
SK-Tours - unser langjähriger Partner für Studienreisen nach Israel – hat ein neues Bulletin herausgegeben. Diesmal steht die Auseinandersetzung mit Ministerpräsident Nehtanjahu und seiner rechten Politik im Vordergrund. Es ist wieder ein sehr lesenswertes Statement entstanden. Wir danken den Autoren für ihre Verstehenshiilfe und ihre klare Positionierung.
Der Krieg und Nethanjahu
Liebe Freunde und Partner,
Der Krieg in Gaza beschäftigt die Welt – weiterhin! Und emotional auch weiterhin mehr als viele andere Konfliktzonen in der Welt.
Es war von Anfang an vor allem ein medialer Krieg der Hamas um die Bilder gewesen – und die aktuellen Bilder von hungernden Menschen und Kindern zerreißen das Herz. Viele unter uns wünschen sich eine klare Verurteilung des Vorgehens der israelischen Armee, verbunden mit der Forderung nach umfassender humanitärer Hilfe für die Menschen im Gazastreifen.
Das humanitäre Anliegen überschattet mittlerweile und sehr nachvollziehbar die offene Frage, warum eine Hamas aus der „umfangreichsten Befestigungsanlage der Geschichte“ heraus weiter kämpft und weiterhin bereit ist, die Bevölkerung des Gazastreifens „bis zum letzten Palästinenser“ zu opfern – und auch die Überlegungen dazu, was ein Waffenstillstand zu den Bedingungen von Hamas bedeutet. Den Kampf um die Bilder hat Hamas gewonnen – jetzt geht es vor allem um das Narrativ, aus dem heraus die politische Zukunft der Region gestaltet werden kann.
Die Mehrheit der Menschen in Israel sehen allerdings auch, daß der Krieg mit Hamas sich in einen Krieg ohne Ende und um das politische Überleben der Regierung Nethanjahu entwickelt hat, bei dem die israelischen Geiseln, die Menschen im Gazastreifen und die israelische Gesellschaft geopfert werden.
Das angehängte SK-Bulletin ist deswegen nicht dem Krieg in Gaza gewidmet – sondern dem israelischen Ministerpräsidenten, der seit vielen Jahren zu einer der bekanntesten Gestalten auf der politischen Weltbühne zählt. Was macht ihn besonders, welche Rolle spielt er für die heutige israelische Gesellschaft – und in welcher Weise steht er möglicherweise für Tendenzen, die sich in der westlichen Welt beobachten lassen.
Mit besten Grüßen aus einem – nicht nur klimatisch – heißen Jerusalem, das SK Team
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Bingo! SK-Bulletin August 2025
Bingo!
Eines der vielleicht hoffnungsreichsten Bücher unserer Tage ist das Werk des holländischen Historikers Rudger Bregman „Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit“. Gegenüber der Vorstellung, der Mensch sei „schlecht von Anbeginn“ bietet der Autor eine irritierend-anregende Erklärung für die evolutionsgeschichtliche Durchsetzung von Homo Sapiens: es sind Empathie und Kooperation, die uns so erfolgreich gemacht haben! Weswegen wir als einzige Wesen in der Tier- und Menschenwelt uns schämen und rot werden können: Wenn wir lügen oder Erwartungen, die wir geweckt haben oder die in uns gesetzt werden, nicht erfüllen - „schämen“ wir uns.
Gleichzeitig scheint es Menschen zu geben, die diesen Sozialreflex nicht kennen, die immun sind gegen Empathie und Scham. Sie gelten als „Psychopathen“ oder auch „Menschen mit dissozialer Persönlichkeitsstörung“. Diesen Menschen treibt nichts die Schamröte ins Gesicht, sie sind „scham-los“. Und sind damit uns gegenüber immer im Vorsprung, weil sie lügen und aus dem Stand eigene Wirklichkeiten entstehen lassen können, daß ihre Mitmenschen kaum oder meist gar nicht hinterher kommen. Sie treten so selbstbewußt und suggestiv auf, daß wir uns, oft gegen eigenes Bauchgefühl, überzeugen lassen und wir selbst es dann sind, die sie in die Verantwortung und damit nach oben schieben.
Statistisch sollen es zwischen drei bis sieben Prozent der Menschen unter uns sein, die von einer psychopathischen Disposition bestimmt sind – um auf erstaunliche Weise in wesentlich höherer Zahl in den führenden Etagen von Wirtschaft und Politik vertreten zu sein.
Und wir erleben sie jeden Tag, im persönlichen Alltag wie in der Politik. Während wir selbst uns oft klein und hilflos fühlen, die Kräfte um uns herum als übergroß und einschüchternd erfahren, schenken uns Psychopathen das Gefühl, mit ihrer Hilfe an das Unmögliche glauben zu dürfen – und sind dafür bereit, uns ihnen zu unterwerfen.
Wir sehen Charisma, weil wir uns nicht vorstellen können, daß es sich einfach um Bedenken-, um Schamlosigkeit handelt. Wir müssen den Versprechen der Selbstgewissen glauben, einfach weil wir so angelegt sind. Und merken regelmäßig viel zu spät, daß wir uns haben falsch beeindrucken lassen. Das Aufwachen ist schmerzhaft, die Schäden oft kaum reparabel.
Das Anerkennen des betrogen worden seins ist schwer, weil es so weh tut. So weh, daß wir oft der Verführung erliegen, den Psychopathen weiter nachzufolgen – der Preis für das Eingeständnis, die Bedrohung einer durch sie gewonnenen Identität sind einfach zu hoch.
Eine „Checkliste“ beschreibt Psychopathen als berechnend und ausnutzend, charmant und sprachgewandt, bestimmt von übersteigertem Selbstwertgefühl und Selbstüberschätzung, lügend und manipulierend, als gefühlskalt bei geringer oder auch ganz fehlender Empathiefähigkeit, ohne Unrechtsbewußtsein und fehlender Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.
Das „Handbuch der Scham-losen“ ist gleichbleibend:
Gegenüber einer komplexen Welt und unserem eigenen Platz in dieser Welt schenken uns die Schamlosen ein ausgrenzendes „Wir“, schenken uns eine kämpferische Identität: Wir - gegen die anderen.
Im persönlichen, oft auch beruflichen Umfeld werden von den Scham-losen Gerüchte gestreut, Menschen ausgegrenzt, in der gemeinsamen Jagd auf den anderen erfahren wir uns als Gruppe und stark. Und sind dafür bereit, andersartige Individualität und Mehrdeutigkeit zu opfern. In politischen Kontexten ist die Amplitude dann einfach nur größer: Hier werden ganze und oft komplexe Gemeinschaften gespalten, bei harter Polemik und Degenerierung der politischen Sprachkultur. Was im Privaten subversiv-leise geflüstert wird, verwandelt sich im politischen Raum zu laut-offener Brandstiftung!
Ob im Privaten oder in der Politik: Die Lüge oder eine konstruierte Wirklichkeit werden frech in den Raum gestellt und so lange beschworen, bis wir unserem eigenen Empfinden und Verstehen nicht mehr glauben können – die Lüge wird zur neuen Wirklichkeit!
Wenn die Scham-losen es nach oben geschafft haben, gilt die Regel: “First-class people take first-class people, second-class people take third-class people”. Denn nur erstklassige Menschen erlauben sich ohne Angst auch erstklassige Leute an ihrer Seite – während zweitklassige Gestalten sich nur drittklassige Menschen holen, die sie nicht in Frage stellen können. Daraus resultieren „Mediokratien“, denn auch die Drittklassigen werden nur noch schwächere Leute um sich dulden - umgekehrte Pyramiden der Inkompetenz wachsen in die Höhe.
Im politischen Raum muß das dazu führen, sich Polizei, Justiz und Medien unterwerfen zu wollen, deren Überwachung von Regeln, Normen und professioneller Kompetenz sie gefährlich für die Scham-losen macht. Das Handbuch empfiehlt als Strategie die Umdeutung: ein „deep state“ ist dann nicht eine Exekutive, deren Organe sich aller Kompetenzen des Staates bemächtigen, sondern es sind die Institutionen und Organe, die sie kontrollieren und die Kräfte, die einem autokratischen Vorstoß Widerstand leisten (könnten).
Die Scham-losen in Alltag und Politik sind im allgemeinen bestimmt von narzistischen Störungen. Bedrohungen ihrer Person werden wirkungsvoll mit einer „Deny, Attack and Reverse Victim“ (DARV) Strategie abgelenkt: Vorwürfe werden abgestritten und die Hinterfragenden brutal und polemisch angegriffen. Daneben der gleichzeitige Versuch, sich selbst in einer Opferrolle zu präsentieren, die eine gewaltsame Demontage der „Feinde“ rechtfertigt.
BINGO !,
denn so erklärt sich vielleicht das Phänomen Binjamin Nethanjahu – stellvertretend für sicherlich einer ganzen Reihe weiterer „Scham-loser“ und Brandstifter unserer Zeit.
Die Brandstifter-Rhetorik Nethanjahus beginnt mit einer brutalen Delegitimierung-Kampagne gegen Yitzhak Rabin und den Oslo-Abkommen von 1993. In der Folge erleben wir die Ermordung Rabins 1995 und einen schleichenden Ausstieg aus den Abkommen. In der Rückschau zeigt sich schon früh das unheilvolle Zusammenspiel der Verweigerung Nethanjahus gegenüber einem unabhängigen palästinensischen Staat – und den parallelen Anstrengungen der 1987 gegründeten Hamas, mit Terror und Selbstmordat-tentaten einen säkularen palästinensischen Staat zu verhindern. Die palästinensische Autonomiebehörde als „Staat auf dem Weg“ wurde von Nethanjahu wie Hamas gleichermaßen nicht gewollt und entsprechend sabotiert. In einer späteren Rede und nach der gewaltsamen Übernahme des Gazastreifens 2007 durch Hamas beschreibt Nethanjahu diese als „asset“, als ein politisches Kapital, das gegen die Palästinensische Autonomiebehörde benutzt werden konnte. Weswegen Nethanjahu nicht nur in seiner Position als Regierungschef, sondern auch über seine Politik gegenüber der Hamas unmittelbar für das Fiasko des 7.Oktober 2023 verantwortlich ist.
Gegenüber seinen Vorgängern hat Nethanjahu eine Omnipräsenz nicht nur der eigenen Person, sondern auch seiner Familie im Stile einer „Royal Family“ aufgebaut, wobei auch die Skandale in und um den „Royal Court“ dazu dienen, sich im Mittelpunkt des israelischen Bewußtseins zu halten: das Land ist permanent mit dem Leben der Familie Nethanjahu beschäftigt, seit bald 30 Jahren können sich Israelis eine Welt ohne Nethanjahu nicht mehr vorstellen. Die Vertreter der Likud-Partei in der Knesset sind nach ihrer Loyalität ihm gegenüber (und seiner Frau!) ausgewählt und begründen eine eigene Kaste von Mediokraten. Viele Likud-Parlamentarier und Likud-Landespolitiker stehen unter Anklage wegen Korruption.
Die entscheidenden Instrumente in der politischen Durchsetzung von Binjamin Nethanjahu waren das Aufreißen alter Wunden und die Beschwörung tiefsitzender Ängste der jüdischen Menschen in Israel. Sie haben die israelische Gesellschaft in ihrer komplexen Gesamtheit um Jahrzehnte zurückgeworfen. In diesem Prozeß hat Binjamin Nethanjahu die innenpolitische Wirklichkeit Israels auf drei Ebenen grundlegend beeinflußt.
1. Die faktisch längst überwundene Aufspaltung in aschkenasisches Establishment und sephardische „Underdogs“, über die seinerzeit 1977 schon ein Menachem Begin an die Regierung gekommen war, hat Nethanjahu gezielt neu aufleben lassen – und sich daraus eine Wählerbasis geschaffen, die ihm auch nach bald 30 Jahren weiterhin treu ergeben ist.
2. Die Delegitimierung der arabischen Bürger Israels, die in Knesset und Öffentlichkeit als Terroristen und fünfte Kolonne diskreditiert werden. Tiefsitzende Ängste aus 2500 Jahren Verfolgungsgeschichte, anti-arabische Ressentiments aus den Gründerjahren des Staates und konkrete Bedrohungsszenarien aus der jüngeren Vergangenheit werden unheilvoll verschmolzen gegenüber einer Bevölkerungs-gruppe, die sich über die vergangenen bald 80 Jahre gegenüber dem Staat Israel als loyal und zunehmend integriert bewiesen hat. Die anhaltende anti-arabische Rhetorik des israelischen Ministerprä-sidenten hat Tabu-Schwellen durchbrochen und Signale gesetzt, die heute in Gaza und dem Westjordanland zu schlimmen Exzessen führen. (Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hatte der Politiker Heiner Geißler davor gewarnt, das Thema Asyl zum Wahlkampf-thema zu machen: hier würden Geister aus der Flasche steigen, die man später nicht mehr wieder loswerde. Aber es wurde Wahlkampft-hema, und wenig später brannten die ersten Asyleinrichtungen in Deutschland.)
3. Die wohl nachhaltigste Folge der Brandstifter-Rhetorik unter Nethanjahu ist die Veränderung des inner-israelischen Diskurses: Hier ist es Nethanjahu gelungen, die Worte „jüdisch“ und „national“ synonym zu verbinden – als Gegenbegriffe zu „israelisch“ und „liberal-demokratisch“, womit sich Nethanjahu eine konservativ religiös-traditionelle Wählerschaft und Koalitionen mit den ultra-orthodoxen Parteien sichern konnte. Mit der Legitimierung der Siedlungsbewegung als „zionistisch“ gelangten auch die Kreise ins Boot, die für eine „Erlösung“ des Landes Gottes im Westjordanland und Gaza stehen. Jüdische Ethik, in ihrem Wesen universal-humanitär, verwandelt sich unter solchen Vorzeichen zu einer ethno-zentristischen Ideologie, aus der heraus die fürchterlichen Übergriffe von Siedlern auf die arabischen Einwohner im Westjordanland wie auch das Vorgehen der Armee im Gazastreifen legitimiert werden.
Vor allem aber ist es Nethanjahu gelungen, jede Rückbindung auf die liberal-demokratischen Werte Israels im Geiste seiner Unabhängigkeitserklärung als „links“, „linksextrem“ und synonym für „Verräter“ zu diskreditieren. Mit dieser Neubesetzung von „links“ treibt Nethanjahu das liberale Israel vor sich her, wobei besonders die Medien und der Justizapparat als erpreßbar erscheinen, wie sich in der Selbstzensur der Presse und in den zögerlichen Entscheidungen der Gerichte gegenüber der Übergriffigkeit der Exekutive zeigt. Gegenüber einer brutalen Polemik und den Tiefschlägen aus der so genannten „Giftmaschine“ des Ministerpräsidentenbüros und seinem Umfeld erscheint die liberale israelische Öffentlichkeit paralysiert, erstarrt wie das Kaninchen vor der Schlange. Es ist frustrierend, ihre Hilflosigkeit zu erleben in dem Versuch Konsens und Spielregeln aufrechtzuerhalten, die von der Regierung schon lange aufgegeben und öffentlich für ungültig erklärt worden sind. Die israelische Gesellschaft und ihre Gerichte bewegen sich, wie viele Länder der westlichen Welt, in dem Spannungsfeld von wehrhafter Demokratie oder Selbstunterwerfung gegenüber einer gewaltbereiten Exekutive: Ist es Aufgabe der Justiz, eine Demokratie gegenüber undemokra-tischen Gesetzen zu schützen, oder beschränkt sie sich auf eine formale Position in der Durchsetzung von Gesetzen, selbst wenn diese in ihrem Wesen undemokratisch sind...
Schon sehr früh hatte Nethanjahu die Medien – und ihre Kompetenz, ihn kritisch zu hinterfragen – als seinen größten Feind, ihre Unterwerfung als wichtigstes Ziel identifiziert. Deswegen seine zahllosen Versuche, Milliardäre aus seiner konservativen Welt dahin zu bringen, wichtige Zeitungen und Medienkanäle in Israel zu kaufen und für ihn kontrollierbar zu machen. Sein größter Erfolg war 2007 die Gründung der Tageszeitung „Israel Hayom“ (Israel Heute) durch den amerikanischen Casino-Mogul Sheldon Adelson die, kostenlos verbreitet, sehr schnell den höchsten Leseranteil in der israelischen Medienlandschaft gewonnen hat. Auch der private Fernsehsender „Kanal 14“ gehört einem engen Freund Nethanjahus und gilt als populäres Sprachrohr der Regierung.
Der Versuch, den unabhängigen staatlichen Sender (Kan 11) aufzulösen, wurde bis heute nicht aufgegeben. Wie es eine Vertraute Nethanjahus, Ministerin Miri Regev begründet: „Was nützt uns ein öffentlicher Sender, wenn wir ihn nicht kontrollieren?“
Der dann kriminelle Versuch, über staatliche Vergünstigungen für einen privaten Medienträger, sowie über ein Abkommen mit dem Verleger der zweitgrößten und Nethanjahu-kritischen Tageszeitung des Landes zu einem „trade-off“ für positive Berichterstattung zu kommen, führte neben anderen Vorwürfen 2019 zu einer Anklageerhebung gegen Nethanjahu wegen Betrug, Untreue und Bestechlickeit.
Und seitdem ist in Israel die autokratische Hölle los. Denn jetzt beginnt eine umfassende Delegitimierung auch von Justiz, Polizei und innerer Sicherheit. Und nach den Neuwahlen im Herbst 2022 setzt eine offizielle „Justizreform“ ein, der Versuch, das israelische Justizwesen vollständig der Exekutive und damit Nethanjahu zu unterwerfen.
Für die schon im letzten Wahlkampf als „voll-rechts“ beworbene Regierung ist die Unterstützung der Orthodoxen Parteien und des rechtsradikalen Flügels kritisch und macht Nethanjahu erpreßbar: bei der Forderung nach einer (grund)gesetzlichen Festschreibung der Freistellung von Jeshiva-Studenten vom Militärdienst wie auch gegenüber den Forderungen der rechtsradikal-messianischen Parteien nach Fortsetzung des Krieges in Gaza und freier Hand für radikale Siedler im Westjordanland. „Eine Zeit der Wunder“, wie führende Vertreter aus dem national-religiösen Establishment erklären, die unter Nethanjahu ihren Zielen einer Wiederansiedlung von jüdischen Menschen im Gazastreifen und der Annexion des Westjordan-landes, von Judäa und Samarien als den Ursprungsorten biblisch-jüdischer Identität zum Greifen nahe kommen.
Seit der einmaligen Knesset-Kadenz des rassistisch-rechtsextremen Rabbiners Meir Kahahe war es über 40 Jahre Ehrensache in der israelischen Knesset, sich den „Kahanisten“ zu verweigern. Nethanjahu hat dieses Tabu durchbrochen und zwei ethnozentrisch-rassistische Parteien mit der Einbindung in seine Regierung nicht nur Legitimation, sondern vor allem auch breiten Zugang zu öffentlichen Ressourcen geschenkt.
Über eine solche und offenkundige Erpreßbarkeit konnte ein wegen „Aufstachelung zum Rassismus und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" verurteilter Radikaler zum Minister für innere Sicherheit und Polizei ernannt werden. Heute sprechen die Menschen offen von einer „Ben-Gvir Polizei“, die mit exzessivem Durchgreifen besonders gegen regierungskritische Demonstranten vorgeht. Wenn in diesen Tagen der Polizeiverantwortliche für das Westjordanland erklärt, die Aufgabe der Polizei sei nicht die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, sondern der Schutz der Siedlungen, ist das symptomatisch.
Aber während die Welt und auch die Menschen in Israel selbst sich an Gestalten wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir abarbeiten, die ehrlicherweise das einlösen, was sie offen angekündigt hatten, ist es unmittelbar Nethanjahu selbst, der die Demontage der israelischen Gesellschaft und dann auch das Geschehen in Gaza zu verantworten hat. „Wenn das der Führer wüßte“, hieß es im Dritten Reich: die Vorstellung, daß vieles unter den Nazis unerträglich sei (wie etwa die Schikane der NS- Blockwarts, die den Alltag der Menschen kontrollierten), und wenn der geliebte Führer davon nur Kenntnis hätte, er alles sofort verändern würde. Was aber nicht stimmte, der Führer wußte und wollte.
Daß die Regierung Nethanjahu das Ende einer liberalen Demokratie in Israel herbeiführen wird, ist eher unwahrscheinlich. Was wir aber erkennbar unter der Regierung Nethanjahu erleben, ist der offene Versuch der Übernahme des Staates durch die Exekutive und ihrem autokratischen Führer, legitimiert von einem immer wieder beschworenen „Willen des Volkes“, der durch die Eliten, durch freie Medien und eine unabhängige Justiz als einem „deep state“ daran gehindert wird, sich frei zu entfalten...
Das Phänomen Nethanjahu stellt dann auch vor die alte Frage: Wer oder was gestaltet Geschichte? Hat erst Nethanjahu die gegenwärtigen politischen Prozesse in Israel entstehen lassen – oder waren sie lange zuvor angelegt gewesen? Haben sich die militärisch-politischen Paradigmenwechsel im Nahen Osten, hat sich die Region Nahost trotz - oder wegen Nethanjahu verändert? Wird es am Ende wegen - oder trotz Nethanjahu zu einer oder keiner regionalen Friedensordnung kommen? Sind es also die Umstände, die politische Führungsgestalten hervorbringen, oder sind es Personen, die in das Rad der Geschichte eingreifen und Wirklichkeit (um)gestalten? Eine Frage vielleicht nach Henne und Ei, während es vielleicht so ist, daß bestimmte Menschen verschiedene gleichzeitig gegebene Möglichkeiten in die eine und eben nicht eine andere Richtung führen. Die Frage bleibt theoretisch und bleibt – offen.
Was dagegen als alte Volksweisheit schon immer gewußt wurde: Der Fisch stinkt vom Kopf! Das pessimistische Weltbild Nethanjahus, seine Persönlichkeitsstruktur und sein Kampf um politisches Überleben haben Israel vergiftet.
Und das ist das Erbe, das Binjamin Nethanjahu hinterlassen wird. Einfach nur traurig.
Jerusalem, August 2025