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"Über Oma ist selten gesprochen worden": Initiative für "Euthanasie"-Opfer hilft Angehörigen

Münchner Gedenkinitiative für "Euthanasie"-Opfer / Verleugnete Opfer der NS-Herrschaft

Im Januar sind im Deutschen Sonntagsblatt zwei interessante Artikel erschienen: Einer zu einer Gedenkinitiative für die Opfer der Euthanasieprogramme und ein zweiter zum Gedenken an "verleugnete Opfer" im Nationalsozialismus. Wir dokumentieren hier die Texte der Artikel.

Münchner Gedenkinitiative für "Euthanasie"-Opfer

Quelle: https://www.sonntagsblatt.de/artikel/ueber-die-oma-ist-selten-gesprochen-worden

Münchner Gedenkinitiative für "Euthanasie"-Opfer
"Über Oma ist selten gesprochen worden": Initiative für "Euthanasie"-Opfer hilft Angehörigen
Von Susanne Schröder | 18. Januar 2023

Über 200.000 kranke, behinderte und alte Menschen haben die Nazis in ihrem "Euthanasie"-Programm ermordet. Etwa jeder achte Deutsche hat ein Opfer in seiner Familie. Eine Angehörigengruppe hilft bei der Spurensuche in den Archiven.

Wie fühlt sich ein Tabu an? "Wie ein undeutliches Spüren, dass man da nicht nachfragen sollte", sagt Josef Held. Für den 65-Jährigen hatte sein Familientabu einen Namen und eine dürre Jahreszahl: Marie Weindl, gestorben am 24.9.1940 in der Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein. "Über die Oma ist in unserer Familie selten gesprochen worden", sagt Held. Sein Leben lang schleppte er das Geheimnis um die psychisch kranke Großmutter mit sich herum, bis er 2019 die Gewissheit hatte: Marie Weindl wurde von den Nazis am 3. September 1940 in der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz mit Gas ermordet. Um die Todesumstände zu verschleiern, war ihre Akte - wie viele andere - fingiert und quer durch Deutschland verschickt worden.

Erschwertes Nachforschen

Jahrelang hatte Josef Held sich durchgefragt, von Archiv zu Archiv. An der Zentrale des Klinikums Haar, wo seine Großmutter von 1935 bis 1940 zuletzt gelebt hatte, wimmelte man seine Bitte um Akteneinsicht noch im Jahr 2000 ab. Zehn Jahre später fand er den Namen seiner Oma erstmals schwarz auf weiß in einem Klinikverzeichnis der Regierung von Oberbayern.

In die 30.000 Patientenakten zur sogenannten T4-Aktion, bei der die Nazis zwischen Januar 1940 und August 1941 mindestens 70.000 Menschen mit Behinderungen oder psychischer Krankheit ermordeten, erhielt nur die Generation der Kinder Einblick. "Ich habe mich jahrelang gefragt, ob ich meine Mutter darum bitten soll", erinnert sich Held. Schlussendlich habe er es aber nie übers Herz gebracht, mit ihr, die ihre Mutter mit fünf Jahren zuletzt gesehen hatte, über die Ermordung von Marie Weindl zu sprechen.

Erst nach dem Tod der Mutter 2019 zerbrach auch das Tabu. Josef Held nahm Kontakt auf zur Münchner Gedenkinitiative für "Euthanasie"-Opfer rund um die Historikerin Sibylle von Tiedemann.

Euthanasie heißt übersetzt "schöner Tod"" - bei den Nazis bedeutete das die grausame Ermordung von kranken, behinderten oder alten Menschen mittels Gas, Nahrungsentzug, Vernachlässigung oder Überdosierung. Insgesamt über 200.000 Menschen starben auf diese Weise, weil sie mangels Arbeitskraft fürs NS-System nicht mehr nützlich waren.

Die Opfer beim Namen nennen

Die Historikerin Tiedemann hat seit 2011 für das NS-Dokumentationszentrum die Namen und Geschichten der Münchner Opfer des NS-"Euthanasie"-Programms recherchiert. 2015 gründete sie mit überwältigendem Zuspruch die Angehörigen-Gruppe. "Jeder achte Deutsche hat in seiner erweiterten Familie ein Euthanasie-Opfer", macht Tiedemann die Dimensionen klar. Psychische Krankheit sei noch heute ein Tabu, deshalb habe es viel Überzeugungsarbeit bei Angehörigen, Psychiatrieerfahrenen und Archiven gekostet, die Opfer beim Namen nennen zu können.

Aber, betont Tiedemann: "Diese Menschen gehören zu uns. Sie hätten gewollt, dass man ihrer gedenkt als zu Unrecht Ermordeter - nicht als psychisch Kranker." Die Arbeit der Initiative hat vieles in Bewegung gebracht: 2017 erinnerte der Bundestag am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, erstmals an all jene, die durch das NS-"Euthanasie"-Programm ermordet worden waren. 2018 wurde das Archivgesetz geändert, sodass Nachfahren leichter Akteneinsicht bekommen.

Wer in den 1930er-Jahren an Geist und Seele erkrankte, hatte wenig Möglichkeiten: Entweder die Familie kümmerte sich oder - wenn das nicht mehr ging - man wurde stationär betreut. Medizinische Behandlung, therapeutische Angebote, Wohngemeinschaften für Betroffene? Fehlanzeige. "Die Leute waren nicht zur Strafe in den Einrichtungen, sondern weil sie draußen nicht leben konnten", erklärt Sibylle von Tiedemann. Sie versteht die Neugier heutiger Geschichtsinteressierter an den Diagnosen, doch ihr Ziel ist, Empathie zu wecken: "Wichtiger als die Frage, was der Mensch hatte, ist: Wer war der Mensch?"

Das zentrale Selektionskriterium für die NS-Ideologen war ohnehin nicht die Diagnose, sondern die Arbeitsfähigkeit. Wer nicht mehr in der Klinikküche, der Landwirtschaft oder der Wäscherei mithelfen konnte, war "unnütz". Kamen dann noch hohe Pflegebedürftigkeit oder auffälliges Verhalten hinzu, war das Todesurteil praktisch gefällt. "Man wollte die Menschen loswerden, die zu teuer waren", sagt Tiedemann. Am 18. Januar 1940 ging der erste Transport mit 25 Menschen vom Klinikum Egliing-Haar in eine Tötungsanstalt, wo die Menschen im Rahmen der berüchtigten T4-Aktion mit Gas umgebracht wurden. Dass da ein Mordprogramm lief, sei auch den Angehörigen bald klargeworden. Doch erst die Predigt des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen am 3. August 1941 stoppte das T4-Programm - nicht jedoch das Morden.

In der Folge hätten Anstaltsleiter die Kranken durch überdosierte Medikation, durch Einstellung der Pflege oder durch wochenlange "Hungerkost" zu Tode gebracht. Die "Euthanasie“-Opfer seien „mit Abstand die zweitgrößte Opfergruppe nach den Juden“, betont von Tiedemann - und das heutige Isar-Amper-Klinikum in Haar habe im Raum München nach dem KZ Dachau die meisten NS-Ermordeten zu verzeichnen. Dank der Akten könne man genau sagen, in welchem der Pavillons wie viele Menschen ermordet wurden.

Sibylle von Tiedemann ermutigt Angehörige zu Nachforschungen: "Es gibt noch viele Akten." Und obwohl die Arbeit am Gedenkbuch für die Münchner "Euthanasie"-Opfer beendet sei, seien viele Fragen offen: Wurden alte, behinderte, kranke Menschen wirklich nur in staatlichen Einrichtungen getötet? Was passierte in kirchlichen Pflegeeinrichtungen oder in Altenheimen? "Das ist noch nicht systematisch erforscht", sagt die Historikerin.

Die letzte große Aktion der Gedenkinitiative vor Corona war eine Gruppenreise im Juni 2019 zur Gedenkstätte Hartheim. Josef Held war einer von 60 Mitreisenden: "Erstmals hat es eine Rolle gespielt, dass ich der Enkel meiner Großmutter bin", erinnert er sich. Ihren Namen in einem öffentlichen Rahmen laut auszusprechen, sei ihm schwergefallen. Doch er ist froh, ihr Schicksal jetzt zu kennen. "Die Beziehung zu den Familienangehörigen ist seither klarer - es gibt kein dunkles Geheimnis mehr im Raum", sagt er. Seine Großmutter habe jetzt ihren Platz in der Familie und in der Gesellschaft bekommen.

Buch-Tipp:
Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Morde
Namen, Lebensdaten und Lebensgeschichten von Münchner Bürgern, die Opfer der »Euthanasie«-Aktion wurden.
Wallstein-Verlag

Das Stichwort: Euthanasie

Der Begriff Euthanasie kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie guter ("eu") Tod ("thanatos"). Man verwendete den Begriff in der Antike für einen Tod, der ohne langes Leiden eintrat. Die Nationalsozialisten verbrämten damit jedoch ihr Programm zur Ermordung von über 200.000 Menschen, die aufgrund von Krankheit, Behinderung oder Alter in der NS-Ideologie als "lebensunwertes Leben" galten.

Erfunden haben die Nazis diese Ansicht jedoch nicht: Bereits 1920 stellten der Jurist Karl Binding und der Mediziner Alfred Hoche in ihrer Schrift "Die Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens" den gesellschaftlich "vollwertigen" Menschen die "Ballastexistenzen" von Menschen mit Behinderung gegenüber.

Schon 1933 legte Hitler mit dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" den Grundstein für das spätere "Euthanasie"-Programm. Bis 1945 wurden so rund 400.000 Menschen zwangssterilisiert. Etwa 6.000 starben infolge des operativen Eingriffs.

Kinder waren im Jahr 1939 die ersten Opfer des staatlich organisierten NS-"Euthanasie"-Programms: Die Forschung geht von mindestens 5.000 Kindern und Jugendlichen mit schweren Behinderungen aus, die dabei durch Überdosierung oder Nahrungsentzug ermordet wurden.

Im Herbst 1939 gab Hitler den Befehl zur Erwachsenen-"Euthanasie". Für dieses Mordprogramm wurde nach 1945 das Kürzel "Aktion T4" üblich. T4 steht dabei für die Berliner Adresse Tiergartenstraße 4. Dort befand sich die Leitzentrale zur Ermordung behinderter Menschen im gesamten Deutschen Reich. Kriterien für die Selektion waren nicht nur körperliche oder geistige Behinderungen, sondern auch finanzielle Überlegungen: Menschen, die keiner Arbeit nachgehen konnten und somit keinen wirtschaftlichen "Nutzen" hatten, wurden in einer der sechs Tötungsanstalten des Deutschen Reichs ermordet.

Als der Protest in der Bevölkerung und die Kritik von deutschen Bischöfen im Jahr 1941 lauter wurden, erklärte Hitler die "Aktion T4" am 24. August 1941 offiziell für beendet. Allerdings hörte das Morden damit nicht auf. Bis Kriegsende setzten Lokalbehörden und Anstaltsleiter das "Euthanasie"-Programm dezentral und mit Unterstützung aus Berlin fort.

Verband will auf verleugnete Opfer der NS-Herrschaft aufmerksam machen

Quelle: https://www.sonntagsblatt.de/artikel/gesellschaft/verband-will-auf-verleugnete-opfer-der-ns-herrscha..

Sogenannte "Asoziale" und "Gewohnheitsverbrecher" - Verband will auf verleugnete Opfer der NS-Herrschaft aufmerksam machen
Von Rudolf Stumberger | 24. Januar 2023

Sie waren vergessene und verleugnete Opfer der NS-Herrschaft: sogenannte "Asoziale" und "Gewohnheitsverbrecher". Jetzt hat sich ein Verband der Angehörigen gegründet, der diese Menschen aus dem Schatten der Geschichte holen will.

Bei Frank Nonnenmacher aus Frankfurt am Main war es der Onkel, bei Ines Eichmüller aus Nürnberg der Opa. Mitglieder der Familie, die unter den Nationalsozialisten als sogenannte "Asoziale" oder "Gewohnheitsverbrecher" in die Konzentrationslager verschleppt wurden. In vielen betroffenen Familien ein Tabuthema, ebenso wie in der heutigen Gesellschaft.

Vor drei Jahren beschloss der Bundestag, diese Menschen endlich als NS-Opfergruppe anzuerkennen. In Nürnberg wurde an diesem Wochenende ein Verband der Angehörigen gegründet. "Wir wollen in der Erinnerungskultur präsent sein", erklärt der Mitinitiator und emeritierte Professor Nonnenmacher. Stand der Holocaust an den europäischen Juden anfangs im Mittelpunkt der Aufarbeitung, erkämpften sich nach und nach auch andere Opfergruppen die Wahrnehmung der Öffentlichkeit: Kommunisten, Christen, Sinti und Roma oder Homosexuelle. Sogenannte "Asoziale" und "Berufsverbrecher".

Nahezu vollständig ausgeblendet aus Erinnerung, Forschung und Wiedergutmachung aber waren die Träger des schwarzen oder grünen Winkels in den KZ: Mit ihnen kennzeichneten die Nazis die "Asozialen" und "Berufsverbrecher".

Dass diese Menschen bisher kaum gesehen wurden, hat auch mit der Einschätzung von Überlebenden der Konzentrationslager zu tun. Eugen Kogon, der das KZ Buchenwald überlebte, schrieb in seinem Buch "Der SS-Staat" von "üblen, zum Teil übelsten Elementen", die andere Häftlinge schikanierten. Wer den grünen Winkel trug, stand in der Rangfolge der KZ-Gefangenen ganz unten.

"Ein großer Teil dieser Menschen war so, dass man die Umwelt tatsächlich vor ihnen schützen musste", schrieb die Wiener Ärztin Ella Lingens, selbst Gefangene in Auschwitz.

Erst spät nahm sich die historische Forschung des Themas an und begann, ein differenziertes Bild dieser Opfergruppe zu zeichnen. Zum Beispiel von den "vergessenen Frauen von Aichach". Aus dem größten bayerischen Frauengefängnis wurden ab 1943 mindestens 326 Frauen nach Auschwitz deportiert. Die meisten starben innerhalb weniger Wochen. Dabei handelte es sich um Gefangene in Sicherheitsverwahrung, also Frauen, die wegen kleiner Diebstähle, Abtreibungen, Prostitution oder Betrugs mehrfach verurteilt waren.

Die vergessenen Frauen von Aichach

Sie standen Jahrzehnte im Schatten des Vergessens und des Verdrängens: die Frauen der Justizvollzugsanstalt Aichach, dem zur NS-Zeit größten Frauengefängnis in Bayern. Zeitweilig waren in der für 500 Insassen gebauten Anstalt bis zu 2.000 Frauen untergebracht, darunter politische Gefangene wie die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky. In Aichach wurden auch sogenannte "asoziale" Frauen zwangssterilisiert. Mehr als 350 Frauen in "Sicherheitsverwahrung" wurden nach Auschwitz in den Tod geschickt.

Dass diese Schicksale nicht vergessen werden, darum kümmert sich das Frauenforum Aichach-Friedberg. Für die Opfer soll ein Denkmal errichtet werden, der Historiker Franz Josef Merkl wurde mit Nachforschungen beauftragt. "Viel zu lange wurde bei all den Bemühungen zur Aufarbeitung der Nazizeit den Frauen in der Strafanstalt keine Beachtung zuteil", sagt Forumssprecherin Jacoba Zapf.

Den Frauenschicksalen ist Merkl im Auftrag des Frauenforums nachgegangen. Er zeigt etwa, wie sich unter den Nazis die Zahl der eingesperrten Frauen mehr als verdreifachte. Zählte man 1933 noch 691 Gefangene, stieg diese Zahl bis 1945 auf 2.000, hinzu kamen an die 1.000 Frauen in den Außenlagern. Zu ihnen zählten auch die vielen Frauen, die wegen "Wehrkraftzersetzung" oder dem Abhören von ausländischen Sendern verurteilt waren.

Historische Forschung

Über die Nachkriegszeit schreibt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags: "Tatsächlich fand die Diskriminierung der 'Asozialen' in den Lagern durch das Aufsichtspersonal und die Mithäftlinge ihre Fortsetzung in der unterschiedlichen Behandlung der verschiedenen Opfergruppen in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften." Eine organisierte Interessensvertretung für diese NS-Opfer habe es nie gegeben. "Die nach Kriegsende rasch gegründeten Opferverbände erkannten ehemalige 'asoziale' und 'kriminelle' Mithäftlinge nicht als Leidensgenossen an und lehnten es ab, sie als Mitglieder aufzunehmen oder deren Interessen wahrzunehmen. Vielmehr wurden sie als lästige Konkurrenten im Kampf um Anerkennung und Entschädigung empfunden."

Statement des Bundestags

Demgegenüber stellte der Bundestag nach 75 Jahren fest: Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält und ermordet. Auslöser für dieses Statement sei die Initiative Nonnenmachers gewesen, der eine Petition auf den Weg gebracht hatte. "Der Bundestag hat beschlossen, dass die jahrzehntelange Vernachlässigung der Forschung angegangen wird, aber wo bleiben dafür die finanziellen Mittel?", sagt Nonnenmacher. Die Geldfrage sei der Auslöser für die Gründung des Angehörigenvereins gewesen. Als Verband könne man mehr politischen Einfluss geltend machen, so der Mitinitiator. Ungeklärt sei auch die Erforschung der Verfolgungsinstanzen, etwa welche Rolle die Kriminalpolizei gespielt habe.

Bedeutung der Sprache

Ein weiteres Problem auf dem Weg, sich für die Opfer zu organisieren, sei die Sprache Die NS-Begriffe "Asoziale" oder "Gewohnheitsverbrecher" wolle man nicht benutzen. "Verband für die verleugneten NS-Opfer" sei ein Vorschlag, erklärt Nonnenmacher. Denn sie seien verbal jahrzehntelang verleugnet worden, auch in den betroffenen Familien. Deren Angehörige hat Nonnenmacher aufgerufen, sich an der Verbandsgründung in Nürnberg zu beteiligen.

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