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Umbau der Justiz - Politische Auseinandersetzungen in Israel

Ein Beitrag von unserem Partnerreisebüro SK-TOURS in Israel

Georg Roessler - Buchautor und Mitarbeiter von SK-Tours - schreibt immer wieder mal Berichte über Ereignisse und Entwicklungen in Israel. Seine Berichte sind immer interessant zu lesen und bieten Eindrücke und Einblicke wie sie kaum ein Journalist und erst recht nicht wir selbst aus der Ferne beschreiben können.

Aus der Nähe, aus der Sicht selbst Betroffener, erhalten wir ein Zeugnis.

Bei der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit der in Teilen rechtsradikalen Regierung unter Netanjahu ist dieser Bericht - so finde ich - besonders interessant.

Im Folgenden geben wir den vollständigen Text wieder und bieten auch den Text als pdf zum Download an - ganz unten auf der Seite.

Quo vadis Israel?

Die legislativen Vorstöße durch eine rechts-national-religiöse Regierung in Israel beschäftigten uns. Vielleicht mehr als vergleichbare Entwicklungen anderer Länder, Polen, Ungarn, Italien, Schweden, Türkei, Brasilien, Tunesien, in Rußland und in den USA eines Donald Trump. Als Projektions-folie für Fragen und Themen der westlichen Welt steht Israel in besonderer Weise im Blick.

Das Problem

Die konstitutionelle Besonderheit Israels besteht darin, daß es gar keine Konstitution besitzt. Deswegen werden über die letzten fast 75 Jahre „konstitutionelle“ Fragen über die Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung sowie einer Reihe von sogenannten „Grundgesetzen“ geregelt. Nach einem Beschluß von 1950 soll Israel eine Konstitution bekommen, was aber nicht als „Gesamtpaket“ an den Anfang seiner staatlichen Existenz gelegt wurde, sondern sich „von unten“ und über die Entwicklung von entsprechenden Grundgesetzen heraus entwickeln soll. Neun der bisher 12 erlassenen Grundgesetze regeln die Funktionen der offiziellen Institutionen des Staates. Und neben dem jüngsten, sogenannten Nationalstaatsgesetz nehmen bislang nur zwei Grundgesetze Bezug auf die Bürger im Staat: Menschenrechte und Freiheit, sowie Freiheit der Berufswahl. Gegenüber den verschiedenen Checks-and-Balances anderer Demokratien ist es in Israel nur der Oberste Gerichtshof, der Grundgesetze und die persönlichen Freiheitsrechte gegenüber Beschränkungen durch die Regierung sichern kann. In dieser besonderen Rolle und Position des Obersten Gerichtshofes liegt die von der Regierung Nethanjahu erklärte Notwendigkeit für eine „Reform“: Der Oberste Gerichtshof habe sich über viele Jahre die Kompetenzen der Legislative angeeignet, sich selbst zur Legislative erhoben. Diesen Mißstand zu korrigieren und die legislative Hoheit wieder in den Schoß des Volkes und seiner gewählten Vertreter zu holen, sei demokratisches Gebot. Das gleiche gilt auch für die – unabhängigen – Rechtsberater der Regierung und der Ministerien: Wie die Richter seien auch diese nicht vom Volk gewählt und eingesetzt worden, damit nicht demokratisch legitimiert und müssen entsprechend unter den Volkswillen und seiner gewählten Vertretung gestellt werden.

Interessen

Demokratische Legitimation: das klingt überzeugend. Weniger überzeugend allerdings, wenn wir die politischen Motivationen und Interessen der Partner der jetzigen Regierungskoalition berücksichtigen:

  • Die nationalreligiöse Partei als Vertretung der Siedlungsbewegung in der Regierung möchte das Siedlungsprojekt zu einem point of no return vorantreiben, verbunden mit dem Gedanken einer Annektierung des Westjordanlandes.
  • Die ultraordoxen Parteien sind durch die ausstehende Einberufung von Tora-Studenten zur Armee zunehmend unter Druck geraten. Die vom Obersten Gerichtshof erzwungene Anerkennung der jüdischen Reform- und der konservativen Bewegung, Beschränkungen der Rabbinatsgerichte und verschiedene säkulare Politikvorstöße entwickelten sich zu weiteren Streitpunkten zwischen Staat und Oberrabbinat. Damit zeigt sich die gegenwärtige innerisraelische Diskussion auch als ein Konflikt zwischen angestrebter national-religiöser Dominanz versus persönlicher Freiheit.
  • Und - Netanjahu möchte nicht vors Gericht bzw. will einer möglichen Verurteilung entgehen. Für die Durchsetzung dieser Ziele ist die Stunde günstig, sie nicht zu nutzen wäre das Verpassen einer einmaligen Chance: Mit einer satten Regierungsmehrheit (nach israelischen Maßstäben) lassen sich die notwendigen Gesetze verabschieden, um der Regierung alle eigenständigen, unabhängigen Institutionen im Staat unterzuordnen. Aber das geht alles nur, wenn die unabhängige Justiz ausgeschaltet wird!

„Wir wollen einen König!“

Bei der aktuellen Tagesdiskussion in Israel geht es letztendlich um die Frage nach der Beschreibung von Demokratie: Als Herrschaft der Mehrheit – oder als liberale Demokratie mit einer Selbstbeschränkung eben dieser Mehrheit und der Festschreibung von Grundrechten, die für alle gelten. Unter diesem Aspekt wird die Notwendigkeit einer verbindlichen Konstitution dringender denn je. Wenn das Volk Israel im ersten Samuelbuch noch nach „einem König“ verlangt hatte, so lautet der Ruf heute nach „einer Verfassung“!

Leben mit Grauzonen...

Die israelische Gesellschaft hatte seit der Gründung des Staates und über jetzt fast genau 75 Jahre gelernt, mit Grauzonen zu leben. Nicht alle Dinge waren im Detail festgeschrieben und definiert. Darunter fielen so schwierige Themen wie die Besatzung, oder auch die Sonderstellung der orthodoxen Gesellschaft innerhalb des Staates. Und vielleicht war dies auch gut so gegenüber der Vielschichtigkeit dieser Gesellschaft in ihrer komplexen Situation im Spannungsfeld Nahost. Das konnte aber nur funktionieren bei einem allgemeinen Konsens.

Und bis noch vor wenigen Wochen konnten viele innerisraelische Konflikthemen tatsächlich als rechte oder linke Politik in einem grundsätzlichen Konsensus gegenüber der Existenz in und mit diesem, in seinem Wesen liberal-demokratischen Staat, verstanden werden.

Ein solcher Grundkonsens und das Leben mit Grauzonen scheinen ihr Ende gefunden zu haben. In breiten Kreisen besteht heute das Gefühl, daß die akzeptierten Spielregeln gerade einseitig geändert werden. Der Versuch von Siedlerbewegung, Orthodoxen und der Likud-Partei unter Nethanjahu, mit einer Umgestaltung des unabhängigen Justizwesens den Staat unter ihre Kontrolle zu bringen und auf ihre besonderen Ziele und Bedürfnisse einzuschwören, zwingt zu Eindeutigkeit. Und wer Eindeutigkeit erzwingen will, zahlt dafür einen Preis. Denn jetzt verlangt auch die Gegenseite klare Ansagen: Warum dienen die einen in der Armee und zahlen hohe Steuern, die anderen dafür beides nicht? Was bedeutet es, wenn hundertausende ultra-orthodoxe Kinder und Jugendliche außerhalb eines staatliches Curriculums unterrichtet werden? Warum fließt Geld in das Siedlungsprojekt, und im Kernland Israel fehlen die Ressourcen? Und warum gibt es für die Menschen am Wochenende eigentlich keinen öffentlichen Verkehr...

Warum der Lärm?

Der Versuch der Ausschaltung des unabhängigen Rechtssystems Israels ist deswegen auch zu einem Symbol geworden für vieles mehr, im Grunde für die Frage nach dem Charakter des Staates Israels selbst. Dabei kann man darüber diskutieren, welcher spezifische Nerv jetzt durch den Regierungs-vorstoß und seine „Justizreform“, begleitet von einer Serie von weiteren dramatischen Gesetzesvorhaben so getroffen worden ist, daß sich heute ein solcher massiver Widerstand dagegen aufgebaut hat. Auf jeden Fall werden die neuen Gesetze von breiten Kreisen als „Coup“, als ein Putsch seitens der Regierung erfahren und hat Menschen mit z.T. völlig unterschiedlichen politischen Ansichten dazu gebracht, ihre Kräfte und Ziele zu vereinen gegenüber der amtierenden Regierung bzw. ihrer Politik.

Dabei stellt eine ultra-religiöse, ultra-nationale Regierung wie der amtieren-den tatsächlich auch eine unmittelbare Bedrohung dar für verschiedene Gruppen im Land, darunter die arabische Bevölkerung, Frauen, LTGBQI, nicht-orthodoxe jüdische Strömungen, aber auch die Universitäten, die freie Presse, eigentlich für alle Bereiche, Sektoren und Aspekte einer modernen westlichen Gesellschaft.

Vergleiche mit Nazi-Deutschland waren in Israel immer tabu. Als vor Jahren der seinerzeitige stellvertretende Generalstabschef bei einer Rede zum Shoah-Gedenktag einen leisen Vergleich in diese Richtung versuchte, war es mit seiner Karriere vorbei. Heute wird verglichen, und zwar ganz offen: 1933 und 2023. Und auch die Ausschreitungen jüdischer Siedler in dem palästinensischen Ort Hawara bei Nablus im Westjordanland werden ohne jede Einschränkung als Progrom bezeichnet, ein Begriff, der bislang nur in einem historischen Kontext und für Ausschreitungen gegenüber Juden gebraucht werden durfte. Gefragt wird allerdings auch, wie sich die Sied-lungsbewegung zu einem praktisch autonomen Staat im Staat entwickeln konnte, mit eigenen Gesetzen und einer geduldeten Gesetzeslosigkeit?!

Eine Verbindung zwischen dem Thema Besatzung und der gegenwärtigen Krise ist vielleicht nicht zwingend. Es gibt weiterhin nachvollziehbare Gründe für eine Besatzung. Umso naheliegender ist dafür die Frage nach ihren Auswirkungen: Daß es neben Sicherheitsüberlegungen hier auch um liberal-demokratische Werte und Prinzipien geht, die durch die Besatzung und das Siedlungsprojekt konterkariert werden, sich die Mechanismen und Instrumente der Besatzung nicht auf Dauer „vor der Haustür“ halten lassen. Militärverwaltung und Ultra-Nationalismus führen zu Korruption und Gewalt in der eigenen Gesellschaft.

Nicht zuletzt wird auch die Frage nach Trennung von „Kirche und Staat“ neu gestellt.

Führende Wirtschaftsexperten, darunter ehemalige und der heutige Chef der Zentralbank und Vertreter der israelischen Hightech-Branche warnen aber auch vor den unmittelbar ökonomischen Konsequenzen einer Schwächung der unabhängigen Justiz Israels: Die Börsenkurse sinken, Investitionen gehen zurück, Firmen drohen ins Ausland abzuwandern. Geld fühlt sich wohl, wo es sicher ist. Und diese Sicherheit kann nur eine unabhängige Justiz bieten.

„Licht für die Völker“

Sollte man jetzt verzweifeln angesichts der gegenwärtigen Situation mit ihren tiefgehenden Spielregelverletzungen?! Mit Sicherheit nicht! Denn nicht weniger dramatisch als der Versuch der Demontage ist der breite Widerstand dagegen! Es ist tatsächlich eindrucksvoll, wie Israel und seine Menschen mit dieser Krise umgehen:

Seit bald drei Monaten gehen Hundertausende auf die Straße, oft zweimal in der Woche. Sie lassen sich nicht erschöpfen, jede Woche steigen die Zahlen, gegenwärtig sind es über fünf Prozent der Bevölkerung, die offen gegen die Regierungspläne protestieren. Das entspräche mehr als vier Millionen Deutsche. Und es sind auch nicht privilegierte „Linke“ oder „weiße Eliten“, die etwa in dem säkularen Tel Aviv demonstrieren: Im ganzen Land, jetzt auch in den Entwicklungsstädten und Peripherien als den Bastionen orientalischer Rechtswähler, versammeln sich die Menschen - auf den Straßen, auf Brücken und an Kreuzungen. Wir erleben die ersten Demonstrationen in arabischen Ortschaften des Landes. Widerstand kommt aus der Armee, wo neben Angehörigen verschiedener Eliteeinheiten, Sicherheits- und Nachrichtendienste jetzt auch einfache Soldaten ihren Reservedienst verweigern. Das ist der vielleicht größte „Tabu-Bruch“ innerhalb der israelischen Gesellschaft, seine Armee hatte sich bis in die jüngste Vergangenheit grundsätzlich jeder öffentlichen Politisierung entzogen. Als Sprecher auf Demonstrationen erleben wir ehemalige Oberkommandierende der israelischen Armee, Geheimdienst- und Polizeichefs, Vertreter von Akademie, Presse, Hightech-Sektor, des Juristenverbandes, ultra-orthodoxe Juden und enttäuschte Likud-Wähler melden sich zu Wort. Ein Drittel der Demonstranten in Jerusalem tragen eine Kippa.

Und sie alle sagen, daß sie einen Vertrag haben mit dem Staat, aber nicht mit einer Regierung, die die Menschen in eine Diktatur führen will. Vielleicht doch auch ein „Licht für die Völker“?

Perspektiven

Die Regierung Nethanjahu steht unter einem immensen Druck: Seitens breiter Kreise der israelischen Öffentlichkeit, seitens der Finanzwelt, durch internationalen politischen Protest (als wiedergewählter Regierungschef hat Nethanjahu noch immer keine Einladung aus dem Weißen Haus erhalten, und selbst ein sonst zurückhaltendes Deutschland spart nicht mit Kritik). Gleichzeitig würde ein Zurückfahren der Regierungsvorstöße die Koalition sprengen, die Erwartungen der orthodoxen- und nationalreligiösen Koalitionspartner sind zu hoch, um sich aus pragmatischen Gründen zurücknehmen zu lassen. Und Nethanjahu braucht diese Koalition, um seine eigenen juristischen Probleme vom Tisch zu bekommen.

Zu dem jüngsten Gesetz der Immunität des Regierungschef gegenüber einer Invalidisierung seiner Regierungsfähigkeit liegen schon jetzt zahllose Appelle an den Obersten Gerichtshof vor. Und viele weitere sind zu erwarten: Zu dem jetzt ausstehenden Gesetz eines Überstimmungsrechts des Parlamentes gegenüber Einsprüchen des Obersten Gerichtshofes, dem Ausschluß juristischer Kontrolle von Grundgesetzen, der Neutralisierung der unabhängigen juristischen Berater für Regierung und Ministerien, dem Gesetz zur Neufestlegung des Ausschusses für die Richterwahl und seine Kontrolle durch die Exekutive. Der Oberste Gerichtshof wird kaum eine andere juristische Möglichkeit haben, als die genannten Gesetze für ungültig zu erklären.

Es ist zu vermuten, daß sich im Konfliktfall die Sicherheitsdienste und die Polizei, die Armee, die Verwaltung und breite Kreise der Öffentlichkeit im Zweifelsfalle hinter den Obersten Gerichtshof stellen werden. Worin dann auch die Bedeutung der landesweiten Demonstrationen und ihrer Zahlen liegen wird, nämlich hier öffentlichen Rückhalt zu geben.

Nachdem allerdings Justizminister Yariv Levin schon jetzt erklärt hat, Vorgaben des Obersten Gerichtshofes nicht folgen zu wollen, wird eine solche Situation zu einer konstitutionellen Krise führen. Was das dann in der praktischen Wirklichkeit bedeuten würde, ist gegenwärtig schwer abzu-schätzen. Die kommenden Wochen werden sicherlich spannend!

Reisen nach Israel

Und was heißt das alles für Reisen ins Heilige Land? Sehr einfach: Erst einmal gar nichts! Der konstitutionelle Aufruhr ist ein unmittelbar innerisraelischer Disput und hat für das Reisen im Land keine Bedeutung. Außer vielleicht, daß das Land möglicherweise günstiger wird, denn der Schekel sinkt.

Und – daß Israel weiterhin unglaublich faszinierend ist, in seiner Vergangenheit und Gegenwart!

Jerusalem, März 2023

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